Demenz ist eine Volkskrankheit. So schwerwiegend die Diagnose für die Betroffenen ist, so sehr verändert sie auch das Leben und den Alltag der Angehörigen. Dabei ist Selbstfürsorge ein wichtiges Stichwort. Denn nur wer in der Lage ist, gut für sich selbst zu sorgen, kann erkrankte Partner oder Elternteile begleiten. Unterstützung erhalten Angehörige beim Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Im Gespräch mit Diplom-Psychologin Ellen Nickel von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Berlin wird deutlich, was Angehörigen hilft und wie wichtig die eigene Reflektion ist.

Frau Nickel, wie erklären Sie am Alzheimer-Telefon die Symptome der Krankheit?

Ellen Nickel: Oft rufen Partner oder Kinder an, wenn die ersten Anzeichen der Erkrankung offensichtlich sind. Da kommt es vor, dass Termine von der Erkrankten vergessen werden, mancher dreimal am gleichen Tag Geld bei der Bank abhebt. Dadurch verrutscht dann oft das Finanzielle, weil Rechnungen gar nicht mehr oder mehrfach bezahlt werden. Das sind typische Anzeichen einer Demenz: das Nachlassen der Merkfähigkeit und des Erinnerungsvermögens. Der dritte Aspekt ist die Wesensveränderung. Die Erkrankten beschuldigen ihre erwachsenen Kinder, die Silberlöffel geklaut zu haben oder das Portemonnaie oder auch banale Gegenstände gestohlen zu haben.

Wann erkranken Menschen typischerweise an Alzheimer?

EN: Das Gros erkrankt nach 65 Lebensjahren. Selten erkranken Menschen im Alter zwischen 50 und 65 Jahren. Wir sprechen von „Jungerkrankten“. Die Lebenssituation dieser Betroffenen und ihrer Familien bergen zusätzliche Probleme wie die Vereinbarkeit von Krankheit und Beruf, finanzielle Härten. Oder die Vereinbarkeit von Pflege und Berufstätigkeit und der Umgang mit Kindern, die noch in der Familie leben. Das betrifft deutschlandweit jährlich etwa 100.000 Menschen. Bei den über 80-Jährigen sind es rund eine halbe Million Erkrankte pro Jahr. Das ist der Peak, danach sinkt die Anzahl wieder. In Summe leben in Deutschland fast 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Das sind die Zahlen aus dem Jahr 2021.

Was sind die größten Sorgen oder Ängste der Anrufer?

EN: Häufig kommt es vor, dass Menschen mit einer Demenz den Alltag nicht mehr gut alleine meistern können. Über einen psychosozialen Gesprächs- und Haltungsansatz klopfen wir ab, wo der Erkrankte steht und wo der Angehörige. Wenn etwa die Körperhygiene nachlässt und es hilfreich wäre, einen ambulanten Pflegedienst einzuschalten. Der Erkrankte jedoch ein Widerstand gegen diese Hilfe von außen entwickelt, dann sind Angehörige oft überfordert. Das kann Sorgen auslösen bis hin, als Angehöriger wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden zu können und mitunter sogar zu aggressivem Verhalten gegenüber den Erkrankten führen. Hier setzt ebenfalls unser Gesprächs- und Beratungsangebot an.

Wie läuft das konkret an?

EN: Wenn der Ehemann erschüttert anruft und sagt: „Ich habe meine Frau angeschrien.“ Dann zeige ich ihm auf, dass dies ein Zeichen für eine Pause ist. Ich ermutige ihn sich diese zuzugestehen. Vielen hilft auch von uns zu hören, dass sie nicht alleine mit ihrer Lage sind. Und das wissen wir beim Alzheimer-Telefon sehr genau. Wir bekommen jährlich bis zu 6000 Anrufe. Im Kern geht es darum, das eigene Verhalten – im Fall des schreienden Ehemannes – nicht zu bewerten. Sich nicht dafür zu verurteilen. Sondern dieses Gefühl der Überforderung und der Wut zu fühlen und auszusprechen. Das ist meist der erste gute Schritt, sich seiner Überforderung klar zu werden und dadurch (mehr) Hilfen in Anspruch zu nehmen. Da kann der Griff zum Telefon helfen. Es gibt ja nicht nur uns, sondern etliche Hilfsangebote bei den Alzheimer Gesellschaften und Demenzberatungsstellen in den einzelnen Bundesländern: https://www.deutsche-alzheimer.de/adressen

Was fordert die Menschen im Umgang mit der Krankheit am meisten heraus?

EN: Vor allem Ehepaare haben sich oft das Versprechen gegeben, füreinander da zu sein. Jetzt baut der Partner aber mental und körperlich rapide ab. Vielleicht reicht es nicht mehr, ihn oder sie in die Tagespflege zu bringen und es geht darum, den Umzug ins Pflegeheim vorzubereiten. Da fühlt sich Mancher als Lügner oder Versager. Immer wieder höre ich: Aber ich habe es meiner Frau doch versprochen, dass ich sie pflege. Dann gilt es diesen Schmerz aufzufangen. Andere fragen sich, wie sie den Umzug oder überhaupt Hilfeleistungen von Dritten einfädeln können, damit sich die Erkrankten nicht überfahren fühlen.

Und das gelingt wie?

EN: Ein Steigbügel kann sein, Phrasen zu verwenden wie: „Der Arzt hat gesagt, dass …“. Oder: „Ich habe einen Kurplatz für dich gefunden“. Es ist manchmal ein bisschen wie mit Kindern, denen bestimmte Notwendigkeiten kindgerecht erklärt werden müssen. Menschen mit einer Demenz sollten diese so nahegebracht werden, dass sie zu ihrem aktuellen Krankheitserleben passen und ihren Charakter berücksichtigen. Ebenso sind Erklärungen vorzuziehen, die keine Ängste und Unsicherheiten heraufbeschwören.

Sie sprechen im Umgang mit Erkrankten vom Weg der kleinen Schritte, was bedeutet das?

EN: Die Krankheit löst verständlicherweise bei den Betroffenen Ängste aus. Stehen nun Schritte an, wie einen ambulanten Pflegedienst zuzulassen, können kleine Schritte hilfreich sein, diese Hilfe zuzulassen. Etwa, indem die Pfleger erstmal nur zur Medikamenteneinnahme vorbeischauen. Dann vielleicht – wie ein Frisör – die Haare waschen. So kann in kleinen Schritten die professionelle Hilfe eingeschlichen werden.

Mancher Angehörige muss sicher auch seine eigenen Ansprüche senken, oder?

EN: Lernen, Fünfe grade sein zu lassen, ist oft hilfreich. Erfordert ein Flecken auf der Bluse wirklich, dass unverzüglich das Oberteil getauscht werden muss, oder kann man das entspannter sehen? Ich bin mir sicher, dass viele Menschen, wenn sie Erkrankte begleiten, viel über sich und die eigenen Verhaltensmuster lernen. Je besser ich das verstanden habe, umso leichter kann der Umgang werden. Mit dem Betroffenen, aber auch mit sich selbst.

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