Wenn Mustafa und Heidi spazieren gehen, strahlen beide. Der türkische Nachbar und die Bewohnerin sind ein „Match“. Während der Ehrenamtliche die alte Dame im Rollstuhl durch die Stadt schiebt, reden die beiden viel miteinander. Durch die interkulturelle Pflege verbessert er sein Deutsch und lernt nebenbei einiges über hiesige Gepflogenheiten. Und Heidi freut sich, dass ihr jemand zuhört, sie aus ihrem Leben erzählen kann und sie etwas über eine fremde Kultur erfährt.
Projektstart „Interkulturelle Pflege“
Möglich wurde dieses generationenübergreifende Miteinander durch ein interkulturelles Projekt im AWO-Seniorenzentrum Remeyerhof in Worms (Nord), das die Glücksspirale über drei Jahre gefördert hat. Ziel war es, durch ein ans Seniorenzentrum angedocktes Quartiersbüro, eine interkulturelle Öffnung in die Nachbarschaft zu erreichen. Ergänzt wurde das Projekt durch ein kultursensibles Pflege- und Betreuungskonzept für optimierte Pflege von Menschen mit Migrationshintergrund. Dieses soll auch als Blaupause für andere AWO-Häuser dienen. Geleitet wurde das Projekt von Isabel Neubauer, die im Seniorenzentrum als Ehrenamts- und Sozialraumkoordinatorin tätig ist.
150 Ehrenamtliche in drei Jahren
Im Wormser Norden ist es mittlerweile bekannt, dass die Mitarbeiterinnen im Quartiersbüro offen für die Bedürfnisse der Nachbarschaft sind, von denen mehr als 40 Prozent ausländische Wurzeln haben. Wo andere Seniorenheime über fehlendes ehrenamtliches Engagement klagen, haben sich im Seniorenzentrum in den vergangenen drei Jahren mehr als 150 Menschen ehrenamtlich engagiert, knapp die Hälfte davon mit Migrationshintergrund.
Früher Student heute Arzt
„Einige machen bei uns ein Praktikum, absolvieren ein freiwilliges soziales Jahr oder beginnen mit einer Pflegehelferausbildung und hängen später die dreijährige generalistische Pflegeausbildung an“, berichtet Isabel Neubauer über die interkulturelle Pflege. Oder sie fassen durch ihren Einsatz im Seniorenheim anderswo beruflich Fuß. Derzeit sind es vor allem Menschen aus Syrien, die sich neu ehrenamtlich engagieren. Ein damaliger Student, der durch den Kontakt mit den Bewohnern sein Deutsch verbessert hat, ist inzwischen als Arzt in einer Wormser Hausarztpraxis angestellt und kümmert sich nun professionell um die Bewohnerinnen und Bewohner. „Auch andere Flüchtlinge haben über den ‚Umweg Seniorenheim‘ Fuß gefasst und Ausbildungen, etwa zum Anlagenmechaniker, abgeschlossen oder sich als Fliesenleger selbstständig gemacht“, so Neubauer.
Mitarbeiter-Workshops
Doch was bedeutet interkulturelle Pflege im Alltag des AWO-Hauses der Generationen? Laut Isabel Neubauer „Mehr auf die Details und Biografien achten“. Dass Muslime möglichst Halal, aber auf keinen Fall Schweinefleisch essen, auf Alkohol verzichten und im Ramadan fasten, wissen inzwischen auch viele Einheimische. Aber im manchmal stressigen Pflegealltag darauf zu achten, dafür braucht es Sensibilität und kulturelles Wissen. Im Seniorenzentrum schulten zwei Fachkräfte der AWO-Bezirksgeschäftsstelle Rheinland, die selbst einen Migrationshintergrund haben, in zwei Workshops Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Bereichen:
Pflege, Sozialdienst, Hauswirtschaft, Verwaltung, Haustechnik und Küche. Dabei wurde auf Belange und Bedenken der Mitarbeiter in den jeweiligen Bereichen eingegangen. Die Ergebnisse werden nun kontinuierlich in den jeweiligen Teams aufgearbeitet.
Interkulturelle Pflege – auf Kodex achten
Wer dann ins Detail geht, kann Lösungen finden. Unter Muslimen ist es zum Beispiel üblich, dass nur das gleiche Geschlecht gepflegt wird: Männer pflegen Männer und Frauen pflegen Frauen. Komplizierter wird es beim Thema Intimrasur. Im Islam gehört diese zum muslimischen Kodex. In Deutschland ist eine solche Rasur nicht im Pflegestandard enthalten. „Da wir die Wünsche und Gewohnheiten heute besser kennen, können wir die Angehörigen darauf ansprechen und fragen, ob sie das übernehmen wollen“, zeigt Isabel Neubauer einen Lösungsansatz auf.
Teerunden und kleine Gesten
Weniger persönlich, aber umso hilfreicher sind kleine Gesten, wie etwa einen Punkt in die Zimmerecke zu kleben, der die Gebetsrichtung nach Mekka anzeigt. Oder den Bewohnerinnen und Bewohnern den Besuch einer Moschee zum Fastenbrechen zu ermöglichen – was im AWO-Seniorenzentrum auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt. Vor allem die muslimischen Männer freuen sich, wenn sie nach alter Sitte bei Tee oder Kaffee unter sich sitzen können, während nebenan die einheimischen Mitbewohner gerne Bingo spielen. „Wir haben herausgefunden, dass diese Teerunden bei den Männern sehr gut ankommen“, sagt Neubauer. Eine laute Spielrunde nach deutscher Art, lehnen sie eher ab.
Interkulturelle Pflege – Aufklären hilft
Im Seniorenzentrum ist es inzwischen auch zur Regel geworden, dass die interkulturelle Pflege einen eigenen Tagesordnungspunkt in den Teamsitzungen aller Bereiche einnimmt. Diese offene Haltung strahle ins ganze Haus aus, so Neubauer. Sie beobachtet auch, dass beispielsweise eine andere Hautfarbe, mehrköpfige Familienbesuche oder das Tragen von Kopftüchern weder unter Bewohnern noch unter Mitarbeitern ein Thema sind. Und wenn doch, etwa wenn neue Senioren ins Haus einziehen, habe man einen Umgang damit. „Wir reden mit den Leuten darüber“, sagt Neubauer, statt die Vorbehalte zu ignorieren.