Seniorenheim lässt ausschlafen und gewinnt so neue Fachkräfte.
Wecken um 6.30 Uhr. Dann waschen und spätestens um acht Uhr sollen die Bewohner im Speisesaal am Frühstückstisch sitzen. So sieht bis heute die Morgenroutine in vielen Pflegeheimen in Deutschland aus.
„Die Frage ist nur, warum“, sagt Susanne Mezger vom SSG-Seniorenwohnen in Augsburg-Haunstetten. Die 50-Jährige leitet das Haus und hat mit ihrem Team um Pflegedienstleiterin Stephanie Holzwarth in einem Pilotprojekt mit dieser Regel gebrochen.
Ausschlafen für mehr Lebensqualität
Im Wohnbereich vier können die rund 40 Bewohner so lange ausschlafen, wie sie wollen. Und sogar im Bett frühstücken. Mezger hat einen Master in Gesundheitsmanagement und viele Jahre im Krankenhaus gearbeitet. „Dort macht eine strenge Morgenroutine Sinn, weil Operationen anstehen“, sagt die gelernte Sozialpädagogin. Im Seniorenwohnen gehe es aber nicht um Fallzahlen, sondern um mehr Lebensqualität, ist sich Mezger sicher, und hierzu zählt auch das Ausschlafen.
Sie und ihre Kollegin Holzwarth sind sich einig, dass sie auch im Alter nicht passiv geweckt werden wollen, wie es in der Pflege oft üblich ist. „Da wird in der Früh die Zimmertür geöffnet und das Flurlicht angeknipst“, berichtet Mezger von Abläufen, die auch in ihrem Haus seit Jahrzehnten so eingespielt sind.
Zuwendung statt Abfertigung
Manchmal beginnt der Nachtdienst in manchen Häusern entgegen den Vorgaben schon mit der Körperpflege – und erhöht damit den Arbeitsdruck. Und die Menschen im Haus erleben die gut gemeinte Pflege eher als schnelle Abfertigung, denn als liebevolle Zuwendung. Hinzu kommt, dass der Blick auf die Uhr beim Personal für Stress sorgt. „Den wollen wir aber gar nicht“, sagt Mezger und wirbt für einen entschleunigten Start in den Tag.
Neue Abläufe, neue Kolleginnen
Natürlich bringt die neue Routine Veränderungen mit sich. Die neue Flexibilität gefällt anfangs nicht allen Beschäftigten. Küche und Hauswirtschaft müssen ihre Arbeitsabläufe anpassen. „Mehr Arbeit entsteht dadurch aber nicht“, weiß auch Holzwarth, die sich eng mit Wohnbereichsleiterin Chantel Viebig abstimmt, um die Unruhe im Team zu dämpfen.
Das liegt auch an vier neu eingestellten Kolleginnen. Ihre Schicht beginnt erst um 8.30 Uhr statt wie bisher zwei Stunden früher. Eine von ihnen ist Agathe Yango. Die 33-Jährige kommt aus Kamerun und lebt seit 2016 in Augsburg. Sie hat eine einjährige Ausbildung zur Pflegehelferin absolviert und ist alleinerziehende Mutter einer dreijährigen Tochter.
Erster Job als Mama
Yango bewarb sich mehrmals bei verschiedenen Trägern. Ihr Wunsch, erst um halb neun morgens mit der Arbeit zu beginnen, lehnen die Einrichtungen brüsk ab. Die Mutter ist auf die Öffnungszeiten der Kindertagesstätte angewiesen, die sie sich mangels Betreuungsplätzen nicht aussuchen kann – und muss von dort noch mit dem Bus zum Seniorenwohnen fahren.
Nicht so Susanne Mezger. Die Augsburger Einrichtungsleiterin hat Yango eingestellt, denn sie passt ins neue Konzept Ausschlafen-Konzept des Hauses. „Wir sprechen vom Mama-Dienst“, verdeutlicht Mezger. Und Holzwarth erklärt das System: Jede Frühschicht besteht aus einer Fachkraft, die von 6.30 bis 14.45 Uhr arbeitet und intern den sogenannten „langen Dienst“ übernimmt. Sie wird von einer Helferin unterstützt. Ab 8:30 Uhr kommen die Frauen hinzu, die einen Mamadienst haben – wie Yango.
Der Coup: Fachkräfte gewinnen
„Mit dem neuen Modell können wir Fachkräfte gewinnen, die bisher durchs Raster gefallen sind“, freut sich Mezger über den Coup, der das BRK-Haus mit rund 120 Pflegeplätzen und rund 90 Mitarbeitern flexibler macht. Zugleich räumt sie ein, dass die „Revolution“ einen Anstoß brauchte. Hintergrund ist das vor zwei Jahren in Kraft getretene Pflegepersonal-Bemessungsgesetz.
Es ist komplex, aber grob gesagt schreibt es vor, welche Qualitätsniveaus für einzelne Versorgungsaufgaben bei den Bewohnern zuständig sind. Medikamente dürfen zum Beispiel nur Fachkräfte verabreichen, die dafür ausgebildet sind. Für die reine Körperpflege kann das Qualitätsniveau variieren und auch durch Pflegehilfskräfte übernommen werden.
Mit Ausschlafen keine Leiharbeit mehr nötig
Was in der Praxis scheinbar mehr Aufwand bedeutet, weil Logistik, Dokumentation und menschliche Zuwendung neu organisiert werden müssen, zwingt die Träger dazu, Mitarbeitenden flexible Angebote zu machen. „Unter anderem sind wir dadurch nicht mehr auf Leiharbeit angewiesen“, wie Mezger beobachtet. In Augsburg-Haunstetten ist daraus der Mama-Dienst entstanden – der auch für Väter gilt. Dass die Bewohner auch mal ausschlafen können, ist ein zweiter Gewinn.