Kanadische Studie zur Wirksamkeit einer würdezentrierten Therapie.
Anna leidet an einer Immunreaktion, die zum Verlust der Oberhaut führt. Die Schmerzen an Händen, Füßen und Schleimhäuten sind heftig. Fest steht, dass Anna bald sterben wird. Als die Frau, die früher eine begeisterte Sportlehrerin war und einen anderen Namen trägt, abgemagert auf der Palliativstation aufgenommen wird, dreht sich alles um die Schmerzen. Sie ist als Mensch nicht mehr wahrnehmbar.
Dr. Sascha Weber begleitet Anna. Der Oberarzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen engagiert sich ehrenamtlich im Verein Deutsche Gesellschaft für Patientenwürde, zu der auch die würdezentrierte Therapie gehört. Als Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins beschäftigt er sich seit mehr als elf Jahren mit dem existenziellen Leid am Lebensende.
Kartell des Schweigens
Jeder Mensch wünscht sich ein würdevolles Sterben. Doch wenn der Tod naht, neigen wir dazu, den Menschen auf „den Sterbenden oder Kranken“ zu reduzieren. Erschwerend kommt das „Kartell des Schweigens“ hinzu, wie Weber es nennt. Es wirkt, wenn Familie, Freunde, Pflegende und Ärztinnen keine Worte mehr finden – zwar untereinander über den Sterbenden reden, aber nicht mehr mit ihm.
Ein Ansatz aus Kanada will Betroffenen und Angehörigen helfen, besser mit dem nahenden Tod umzugehen: Die von Professor Harvey Chochinov entwickelte würde-zentrierte Therapie will in einem strukturierten Gespräch und dessen anschließender Verschriftlichung das Würdegefühl des Sterbenden erhalten und stärken. Der aus einem Interview transkribierte Text soll den Hinterbliebenen übergeben werden.
Würdezentrierte Therapie: Nebeneinander erkennen
Kern der würdezentrierten Therapie ist ein Fragebogen, der auf der Website des Vereins zur Verfügung steht. Anhand von 14 möglichen Fragen sollen die Erinnerungen am Ende des Lebens festgehalten und die Ressourcen der Betroffenen gestärkt werden. Für Oberarzt Weber dient bereits die erste Frage dazu, in ein tiefes Gespräch einzutauchen:
„Erzählen Sie mir ein wenig aus Ihrem Leben, von den Momenten, die Ihnen am besten in Erinnerung geblieben sind oder die für Sie am wichtigsten waren.“
Oft erinnern sich die Menschen an Höhepunkte, wie die Hochzeit, die Geburt oder das Aufwachsen der Kinder. Der Interviewer nimmt die Antworten mit einem Diktiergerät auf und erstellt daraus den Text. Das Gespräch wird durch Nachfragen vertieft: „Gibt es etwas Besonderes oder Aufgaben, die Sie Ihrer Familie über sich mitteilen oder hinterlassen möchten?“ Und: „Was sind Ihre wichtigsten Leistungen, worauf sind Sie besonders stolz?“
Vor allem die letzte Frage ziele darauf ab, ein Nebeneinander erkennbar und erlebbar zu machen, meint Weber. So erfährt der Mediziner von der eingangs erwähnten Anna, dass sie so gerne mit ihrem Mann getanzt hat. „Wir konnten ihre Schmerzen medikamentös lindern und haben ihr diesen Wunsch ermöglicht“, berichtet der Facharzt. Auf dem Krankenhausflur konnte die Frau noch einmal mit ihrem Mann tanzen.
Todeswunsch zurückdrängen
Dann sagt sie, bisher hätten alle nur über ihre Haut geredet. Jetzt habe sie sich zum ersten Mal seit langem wieder als Person erlebt. Das habe auch den Todeswunsch der Patientin zurückgedrängt, was letztlich ihre Resilienz gestärkt habe, meint Weber. Durch solche Erfahrungen können Menschen erleben, dass es ein „und auch“ gibt. Ich bin krank und auch die Summe meiner Lebenserfahrungen und -gefühle.
„Es geht darum, dass sich die Haltung und Wahrnehmung ändern kann“, sagt Weber, vor allem dann, wenn Sterbende etwas hinterlassen können. So wie die Antworten aus dem Interview, in dem auch festgehalten wird, welche Hoffnungen und Wünsche der Befragte für die Menschen hat, die ihm wichtig sind oder ob es noch etwas gibt, das den Angehörigen gesagt werden will.
Würdezentrierte Therapie in kanadischer Studie
Dass die würdezentrierte Therapie wirkt, zeigt eine erste klinische Studie aus Kanada*. So waren 91 Prozent der Patienten mit der Therapie zufrieden, 86 Prozent empfanden sie als hilfreich und 76 Prozent erlebten ein gesteigertes Würdegefühl. Auch Angehörige empfanden die Therapie als hilfreich (95 Prozent) und würden sie weiterempfehlen (95 Prozent). Für 78 Prozent war das übergebene Heft hilfreich bei der Trauerbewältigung oder spendete Trost (77 Prozent).
*McClement, S., Chochinov, H.M., Hack, T., Hassard, T., Kristjanson, L.J. und Harlos, M. (2007) Dignity therapy: family member perspectives. Journal of Palliative Medicine, 10, 5, 1076-1082.).
