Eine Vater-Sohn-Geschichte, die zeigt, dass nach der Diagnose Demenz das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist

„Ein halber Held – Mein Vater und das Vergessen“ ist die berührende, zuweilen aber auch absurd komische Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater, der sich stets über den Geist definierte, und liefert einen einzigartigen Einblick in das Erleben eines Demenzkranken. Auf einfühlsame Weise werden dabei auch die kreativen Seiten der Krankheit geschildert, die sich von der herkömmlichen, rein pathologischen Wahrnehmung deutlich abheben. Hier nun der 2. Teil des Interviews mit Andreas Wenderoth.

Ein Mensch, der sich zeitlebens über den Geist definierte verliert nach und nach seine Selbstständigkeit, sein Gedächtnis … Können Sie uns erzählen, wie Ihr Vater den Krankheitsprozess erlebt hat?

Andreas Wenderoth: Das wäre natürlich ein bisschen anmaßend, denn wie er es wirklich erlebt, weiß am Ende nur er. Aus unseren Gesprächen entnehme ich, dass er versucht, die Situation anzunehmen, aber es fällt ihm unendlich schwer. Schon die normalen Beschwerlichkeiten des Alters erschienen ihm unerträglich, die Demenz ist, so gesehen, natürlich eine grausame Zuspitzung. Als er noch etwas klarer war, hat er dauernd davon geredet, dass er sich umbringen will und was er doch für ein Feigling wäre, es nicht zu tun. Der Gedächtnisverlust und die Unfähigkeit zur eigenen organisierten Handlung ist ja nur die eine Seite der Demenz, oftmals und in seinem Falle besonders, sind die parallel auftretenden Depressionen das mindestens ebenso schwere Problem.

Es ist oft traurig und berührend mitzuerleben, wenn sich ein nahestehender Mensch in seiner Persönlichkeit verändert und mehr und mehr auf Hilfe angewiesen ist. Gab es auch schöne, bereichernde, ja sogar lustige Momente, die Sie gemeinsam erfahren/erleben durften?

Andreas Wenderoth: Sie stehen sogar im Kern meines Buches, das ich zum Glück in einer Periode geschrieben habe, als er in einer, ich nenne sie mal, kreativen Phase der Demenz war. Lange Zeit hat er die Tatsache seiner geistigen Lücken mit sprachlicher Eleganz kaschiert. Ein Kampf um ureigenes Terrain: seine Sprache, seine Fantasie, den fantasievollen Umgang mit Sprache. Er hat neue Wörter geschaffen und Sätze von poetischer Strahlkraft. Es ist merkwürdig, als gesunder alter Mensch redete er lange Zeit in relativer Erwartbarkeit, jetzt aber, am Abgrund stehend, schöpft er aus scheinbar ungeahnter Quelle und schafft es immer wieder, uns mit seinen Kreationen zu überraschen. So entsteht oft absurd Komisches, aber auch vieles, was ausgesprochen berührend ist. Nehmen wir nur den Titel des Buches, mein Vater hat ihn mir gewissermaßen geschenkt. Eines Tages sagte er: „Entschuldige mich bitte für meine Inhaltslosigkeit, aber ich bin nur noch ein halber Held.“ Was für ein Satz!

Haben Sie sich selbst dadurch verändert bzw. gibt es Dinge, die Sie aus dem Umgang mit einer an Demenz erkrankten Person für sich selbst gelernt haben?

Andreas Wenderoth: In der Sprache der Psychologen meint Validation die Annahme der Erlebnis- und Gefühlswelt des Anderen. Ich lasse mich also bewusst auf die Welt des Dementen ein, denn umgekehrt funktioniert es nicht mehr so gut. Ich korrigiere ihn also nicht, und wenn, da die Zeitebenen oft durcheinandergeraten, verstorbene Personen auftauchen, lässt man sie auch nicht ständig neu sterben. Wenn also jemand im Zimmer steht, den es nicht mehr gibt, sagt man, der wollte sich sicherlich nur nach Dir erkundigen. Letztlich geht es doch vor allem um die Beruhigung des Dementen, darum, Ihm die Angst zu nehmen. Das funktioniert nicht, wenn ich versuche, aus meiner Welt heraus zu argumentieren. Es ist aber auch ein ganz gutes Prinzip, sich auf Menschen einzulassen, von denen man eigentlich annimmt, dass es keine gemeinsamen Schnittmengen gibt. Ich sage nicht, dass es einfach ist, aber es kann eine großes Bereicherung sein, von sich selbst abzusehen.

Was wünschen Sie sich, was möchten Sie mit Ihrem Buch bei den Leserinnen und Lesern bewirken?

Andreas Wenderoth: Ich möchte ihnen vor allem Mut machen, den Demenzkranken niemals abzuschreiben. Mir liegt es völlig fern, die Krankheit zu idealisieren, natürlich hat sie schmerzvolle Seiten, die den Angehörigen fast Übermenschliches abverlangt. Aber es gibt auch Wunderbares zu entdecken. Und viele glückliche Momente. Die Beziehung zu meinem Vater war in einem tieferen Sinne nie klärungsbedürftig, und doch hat uns die Arbeit an dem Buch noch einmal auf besondere Weise zusammengeführt. Ich denke, in erster Linie ist das Buch eine Liebeserklärung an meinen Vater geworden. Eine Art Denkmal aus Buchstaben.

 

Info: Das Buch „Ein halber Held – Mein Vater und das Vergessen“ ist am18.04.2016 im Blessing Verlag erschienen, 304 Seiten, ISBN: 978-3-89667-558-3. Die gebundene Ausgabe kostet 19,99 EUR.

Wir danken dem Team von CareTrialog für die zur Verfügungstellung dieses Beitrages

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